Die Gräte

 

 

Ich war so um die 5 Jahre alt und mit dem Essen eigentlich nur bei Sellerie, Fenchel und Kümmel wählerisch. Okay, vielleicht waren da hier und da noch so ein paar Kleinigkeiten, aber so generell war ich eigentlich ganz einfach zufrieden zu stellen.

 

Und so kam es an einem Abend, dass es Brathering aus der Dose gab. Aus der Sicht meiner Kinderaugen eine riesige Dose mit rieseigen Fischen drin! Die Dose aufmachen durfte auch nur mein Vater, weil der die Kraft hatte, den Öffner richtig zu bedienen. Gut, seine Feinmotorik war nicht immer sofort abrufbar, sodass es dann durchaus auch vorkam, dass sich über das kleine Loch am Anfang zwar nur wenig, aber dafür mit dem nötigen Druck der flüssige Inhalt der Dose über den Tisch ausbreiten konnte. War aber nicht so schlimm, er hatte ja seine Leonie (Meine Mutter), die er liebevoll nur Loni nannte und bei solchen Missgeschicken kam dann immer spontan: Loni, putz´ das mal geschwind weg…. So auch bei dieser Dose mal wieder. Man fragt sich sogar manchmal, wie er das macht, dass es immer bei ihm diese Sauerei gab. Keine Frage, als Kind beobachtet man genau und erkennt sofort folgenden physikalischen Zusammenhang:

 

Der Ring am Dosenanfang wird nach oben gezogen und drückt über eine große Hebelübersetzung einen kleinen  Anfang des Deckels nach innen in die Dose. Somit ist der Anfang gemacht für die vormarkierte Nut, an der sich durch den Schäl- und Schereffekt der Deckel sauber von der Dose trennt.

 

Nun steckt man seinen Zeigefinger von dem vermeintlichen „oben“ durch den Ring, stütz dazu den Daumen auf dem Deckel der Dose ab und zieht nun mit einer kräftigen, aber gleichmäßigen Bewegung den Ring nach hinten, sodass sich der Deckel nach oben öffnen kann. Doch wer in Physik Bescheid weiß, der erkennt sofort, dass durch den Druck mit dem Daumen auf den Deckel selbiger etwas nachgibt, dadurch der Druck in der Dose erhöht wird und sich natürlich sofort durch die ganz kleine Öffnung am Anfang entläd. Meist reicht der Spritzer nicht allzu weit, aber es reicht um die Tischdecke zu verschmieren. Und das putzt Loni eben nicht geschwind mal so weg…

 

Oh, ich sehe, ich schweife ab, aber es passt ja dennoch gut zum Thema…. Nun hat der Deckel eine Position erreicht, in der er nur noch am hinteren Rand an der Dose fest hängt. Dies ist einer der spannendsten Momente, hier zeigt sich, wer wirklich Hunger hat und wer eine angefangene Tätigkeit geduldig zu Ende bringen kann. Zieht man nämlich weiter am Deckel, so reißt dieser ab und schleudert die an ihm hängende Soße mit unglaublicher Geschwindigkeit nach hinten weg, meist ist in dieser Flugrichtung der Soße das Hemd oder die Hose dessen, der sich an der Kunst des Öffnens übt.  Kurz gesagt, nicht nur die Tischdecke hat Fettflecken, nein auch die Hose oder das Hemd des Vaters. Auch da hat Loni größte Schwierigkeiten, es geschwind weg zu putzen…

 

Überspringen wir nun kurz den verbalen Austausch zwischen zwei Partnern, die sich seit 20 Jahren in und auswendig kennen….

 

Abendessen! Der Fisch wird fair verteilt, es reicht für jeden und das gute Schwarzbrot gibt’s in reichlichen Mengen, auch wenn wir Kinder das Brot an sich eher für eine verzichtbare Notwendigkeit ansahen. Der Fisch war gut, allerdings waren diese Filetstücke nicht wirklich gut filetiert, sodass jeder an seinem Tellerrand seine Gräten sammelte. Okay, der eine mehr, der andere weniger. Ich ließ von meiner Mutter jeden einzelnen Bissen schön genau untersuchen, weil ich auf keinen Fall eine Gräte schlucken wollte.

 

Das Essen war vorbei, der Tisch abgeräumt, die Tischdecke in der Wäsche und meine Mutter klapperte sich noch eine Runde durch die Küche, der Rest verteilte sich in der Wohnung. Eigentlich hätte es zu diesem Zeitpunkt noch ein gemütlicher Abend werden können, wenn da nicht irgendetwas in meinem Hals gepiekst hätte! Ich in die Küche: Mama, da stupfts… (Schwäbisch für piekts!) Meine Mutter schaute in den Hals, konnte nichts erkennen und meinte, ich soll noch mal ein Stück Brot essen, das würde die Gräte mitreißen. Hat es aber nicht. Stupft immer noch. Jetzt begann die komplette Familienmaschinerie zu arbeiten. Ich war plötzlich der Mittelpunkt des Geschehens, durfte auf den Tisch knien, dass man sich nicht so weit nach unten beugen musste und abwechselnd schauten alle mit großen Augen und ratlosen Blicken in meinen Rachenraum.

„ Das ist nix!“

„ Es stupft aber beim Schlucken“

„Kind ich seh aber nix“

„ Es stupft aber trotzdem“

 

 

Nachdem dann der Familienrat erkannte, dass er hier nicht mehr helfen kann, kam Plan B:

Im Haus unten wohnte Frau Schmidt, die im Krankenhaus im OP als Schwester arbeitete, die muss her! Also um halb 10 Abends die gute Frau aus dem Bett geklingelt und zu Rate gezogen.

 

Ich kannte ja die Prozedur schon, Mund auf,…. AAaaaaaahhhhhhhhh…..

 

Frau Schmidt: Ja, kein Wunder, ganz da hinten steckt sich doch!

Drei Köpfe, fast gleichzeitig, vereinten sich vor mir und wollten alle sehen, was mich da so peinigt! Gott sei Dank hat Frau Schmidt die Gräte entdeckt, wurde mir doch schon fast unterstellt, ich wolle nur nicht ins Bett….

 

Sie packte Ihr „Notfallwerkzeug“ aus und entnahm dem eine sehr große und lange Pinzette. Aus meiner Perspektive hatte die Dimensionen, damit hätte man die Gräte auch am Mageneingang noch packen können… Und jetzt wurde es spannend. Sehr spannend. Denn die Gräte saß doch so weit hinten, dass zum Packen die Pinzette meine Zunge berühren musste. Und ihr kennt mich und meinen Würgereiz! Jetzt wäre mir das natürlich schon sehr peinlich gewesen, meinem Retter in der Not das Abendessen entgegen zu schleudern, andererseits war dieser Reiz nun einfach mal da…. Frau Schmidt, die mich ja auch schon in Windeln durch die Gegend geschleppt hat, kannte mich bis ins Detail. Mit ihrem losen Mundwerk plapperte sie und plapperte und warf mir so viele Dinge an den Kopf, über die ich alle gleichzeitig hätte nachdenken müssen, und schwupps…. Fuhr sie mit der Pinzette in meinen Hals, griff die Gräte und zog sie raus! Das Ganze ging so schnell, dass ich zwar einen leichten Würgereiz bekam, der aber lediglich als lauter Rülpser sich bemerkbar machte.

 

Hurra, die Welt war wieder in Ordnung!! Ich schluckte... kräusselte die Stirn und meinte: Da ist aber immer noch was…. Frau Schmidt ganz spontan und ohne lange zu fackeln. Junge, das ist jetzt die Stelle, in der die Gräte steckte. Jetzt gehst du ins Bett und schläfst eine Nacht drüber und dann sehen wir weiter Peng. Ich habe fertig. Und wer Frau Schmidt kannte, der wusste, Widerspruch keine Chance. Es war mittlerweile nach 22 Uhr und alle waren ziemlich gestresst und erleichtert, dass dem jüngsten Mitglied endlich geholfen war!

 

Ihr könnt es wahrscheinlich nicht glauben, aber ich war durch diesen Vorfall viele Jahre sehr allergisch auf alles, was nur ansatzweise wie eine Gräte aussah. Ich hab auf jeden Fall viele Jahre einen Bogen um Bratheringe gemacht und auch heute ergreift mich noch ein selten komisches Gefühl, wenn es mal Fisch zu essen gibt!